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Wenn Kreise sich schließen

Die norditalienische Stadt Cremona in der Lombardei ist Heimat von Antonio Stradivari, einem der berühmtesten Geigenbauer aller Zeiten. Hier sind Violine, Bratsche, Cello und Kontrabass zuhause. Die mehr als 2.000 Jahre alte Stadt in der Po-Ebene ist Synonym für die Kunst des Streichinstrumentenbaus. Wer eine wertvolle Geige kaufen möchte, hat hier die Wahl unter vielen traditionellen Werkstätten. So weit, so gut. Cremona steht aber noch für viel mehr!

Gemeinhin ist bekannt, dass besonders im Maschinenbau und somit vor allem im Ingenieurwesen die wirtschaftliche Prosperität Norditaliens begründet liegt. Antonio Cremona, der aus dem lombardischen Pavia stammt und warum auch immer denselben Nachnamen wie die Stadt der Geigen führt, war Ingenieur. 1857 wurde er Gymnasiallehrer zunächst in Cremona, dann auch in Mailand, schließlich Professor in Bologna und am Politecnico di Milano, das auch Institute in Cremona führt. Ab 1873 war Antonio Cremona sogar Leiter der Ingenieurschule der Universität Rom. Aus diesem klugen Kopf entsprang der Cremonaplan, der jedem Studenten der Technischen Mechanik und Statik ein Begriff ist. Dieser Cremonaplan ist eine zeichnerische Methode zur Bestimmung der Stabkräfte an statisch bestimmten Fachwerken. Es genügen ein Blatt Millimeterpapier, ein Geodreieck, ein gespitzter Bleistift – und am besten noch ein Radiergummi. 1865 gab es noch nicht viel mehr. Auch 1980 zu Beginn meines Bauingenieurstudiums musste das reichen. Das Grundprinzip des Cremonaplans ist, dass an jedem Fachwerkknotenpunkt Gleichgewicht herrschen muss – die Summe aller Kräfte also null sein muss. Alle Kräfte werden zur grafischen Darstellung mit einem geeigneten Maßstab in Längen umgerechnet. „Schneiden“, so hieß immerzu das Zauberwort unseres hochgeschätzten, aber strengen Lehrmeisters Professor Schnell. So entsteht für jeden Knoten ein geschlossenes Krafteck. Es muss unbedingt sowohl für jeden einzelnen Knoten als auch für das Fachwerk insgesamt geschlossen sein. Das ist der Cremonaplan: ein Kräfte-Kreis. Aus Länge und Richtung der Vektoren lässt sich die jeweilige Stabkraft – Zugstab, Druckstab oder Nullstab – bestimmen.

Eine geniale Sache, wie ich finde. Faszinierend einfach und vor allem unbestechlich! Auch im richtigen Leben ist es doch so: Kreise schließen sich. Wenn nicht, bleibt etwas offen. Wenn alles sich schließt und fügt und nichts mehr übrigbleibt, keine Kraft wirkt mehr, ist alles gegeben, alles genommen, alles ausgeglichen, alles auf Null. Genial und beruhigend!